Offener Brief an den Herausgeber der Zeitschrift für Kindschaftsrecht und Jugendhilfe (ZKJ), Herrn Professor Dr. Stefan Heilmann
Sehr geehrter Herr Professor Heilmann,
ich habe lange gezögert, Sie als langjährigen Herausgeber der ZKJ anzuschreiben, jedoch vermag ich nach der Lektüre des Artikels von Zimmermann, Fichtner, Walper, Lux und Kindler nicht länger zu
schweigen. Außer Fichtner sind alle Autoren für das deutsche Jugendinstitut [DJI].) tätig, das durch problematische Beiträge z. B. in der Publikation von Heiliger & Hack (Eds.) (2008) „Väter um jeden
Preis – zur Kritik am Sorge- und Umgangsrecht“, Verlag Frauenoffensive, München oder in der MDR Umschau-Sendung vom 19.01.2022 Umstrittenes Sorgerechts-Urteil, weil das Kind nicht zum Vater
will; (1) Umstrittenes Urteil in Sorgerechts-Fall – Weil Kind nicht zum Vater will, muss es ins Heim, MDR – YouTube, negativ von sich reden machte.
In ZKJ 2 und 3/2023, Teil I und II, war genannter Artikel, betitelt als „Verdorbener Wein in neuen Schläuchen“ (unter Anlehnung an Stadler & Salzgeber „Alter Wein in neuen Schläuchen“, in: Familie,
Partnerschaft & Recht, 5/1999, S. 231 – 235), publiziert. Er war eine kritische Stellungnahme zu Baumann, Michel-Biegel, Rücker, Sefrin & Wiesner mit dem – durchaus zutreffenden – Titel „Zur
Notwendigkeit professioneller Intervention bei Eltern-Kind-Entfremdung“, Teil I und II, in ZKJ 7 und 8/2022.
Als Facharzt für Psychiatrie, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und Mitglied der internationalen Parental Alienation Study Group (www.pasg.info) hatte ich seit 25 Jahren in meiner Praxis
spezifisch mit von Eltern-Kind-Entfremdung (EKE) bzw. englisch: Parental Alienation (PA) – man spricht heute in der internationalen Fachdiskussion weniger von PAS, sondern von PA, also ohne
Syndrom – mit betroffenen Müttern, Vätern, Großeltern und betroffenen erwachsenen Scheidungskindern zu tun, die unter erheblichen transgenerationalen Gesundheitsproblemen durch EKE/PA
litten (Persönlichkeitsstörungen, Depressionen, Ängste, Suizidversuche und Suizide, Anorexien, Suchterkrankungen, Identitäts- und Beziehungsproblemen und anderen psychischen und psychosomatischen Erkrankungen, s. auch „Brief eines Arztes“ als Pdf-Anhang ).
Aus psychiatrisch-psychotherapeutischer Sicht handelt es sich bei induzierter Eltern-Kind-Entfremdung (Parental Alienation), mit den vom amerikanischen Kinderpsychiater R. A. Gardner, bereits 1985
beschriebenen Symptomen, um eine kindliche Folgestörung von manipulativem (indoktrinierendem) elterlichen Fehlverhalten im Sinne von psychischer/emotionaler Kindesmisshandlung (DSM-5, Code
V995.51 und ICD-11 Code QE82.2), die zu traumatischen psychischen und psychosomatischen Langzeitfolgen in der Persönlichkeitsentwicklung des Scheidungskindes und des späteren Erwachsenen
sowie betroffener Elternteile führen kann.
Es ist unverständlich, dass dieses Phänomen trotz entsprechender klinischer Befunde und trotz relevanter Erkenntnisse der jüngeren Psychotraumatologie, Viktimologie und Bindungsforschung von
einigen Fachleuten und auch von bestimmten gesellschaftlichen Interessengruppen immer noch bagatellisiert, verleugnet und sogar bekämpft wird.
Was betroffene Eltern angeht, so beschäftigt sich die Wissenschaft intensiv mit den Auswirkungen von Eltern-Kind-Kontaktverlust auf Kinder und Jugendliche, es wird jedoch noch zu wenig über dessen Folgen auf das Leben von Müttern, Vätern und Großeltern geforscht und geschrieben, die aufgrund institutioneller Interventionen und psychodynamischer Hintergründe den Kontakt zu ihren Kindern/Enkeln für lange Zeit oder für immer verlieren. Der Bruch in der eigenen Biografie, der dadurch entsteht, beeinträchtigt Lebensgestaltung, Lebensqualität und psychische Gesundheit der betroffenen Kinder und Eltern.
Darüber habe ich mehrfach in internationalen Fachpublikationen berichtet, zuletzt in der österreichischen, peer-reviewten Fachzeitschrift „Neuropsychiatrie“, 3/18, DOI 10.1007/s40211-018-0267-0
und „Neuropsychiatrie“, 1/2019, A13-A14 (s. Anhang); und in englischsprachigen Arbeiten z. B. in „International Journal of Psychiatry Research“, Vol. 4/Issue 5 (2021), Parental Alienation: A Serious
Form of Child Psychological Abuse and a Worldwide Health Problem, that Affects Children and Victim Parents all Over the World (s. Anhang) oder im medizinischen Fachbuch: Ravi Kumar Chittoria (Ed.),
„Highlights on Medicine and Medical Sience“, Vol. 3, BP international, 2021: Chap. 12: 83 – 91 und
Chap. 17: 127 – 137 (s. Anhang).
Besonders in Deutschland, aber auch international (z. B. der europäische „Grevio-Bericht“ vom 16.Sept. 2021 oder der Bericht des „Special Rapporteur“, Mrs. Reem Alsalem, der am 13. April 2023 vom
Human Rights Council der Vereinten Nationen veröffentlicht wurde https://documents.un.org/prod/ods.nsf/xpSearchResultsM.xsp, – nach professioneller wissenschaftlicher Analyse und harscher Kritik durch PASG (www.pasg.info) & GARI-PA (www.garipa.org; https://bit.ly/Analysis_of_the_Report), – verharrt das Thema seit mindestens 30 Jahren zwischen Vertretern und Gegnern des „Parental-Alienation-Konzeptes“ im Stillstand, zum Schaden von betroffenen Scheidungskindern und ihren Eltern/Großeltern.
Die anhaltende Debatte über das „Sein oder das Nicht-Sein von EKE/PA“ und wie damit umzugehen sei, hat selbst Wissenschaftler und Professionelle polarisiert. Es ist dringend an der Zeit, dass diejenigen, die mit hochstrittigen Scheidungsfamilien zu tun haben, internationale Forschungsergebnisse zu
dem schwierigen Thema EKE/PA ernst nehmen, anstatt persönliche Meinungen in nicht-peer-reviewten Zeitschriften zu publizieren. Es braucht außerdem nach wie vor eine seriöse Auseinandersetzung
mit dem PA-Konzept in der KJP-Community in Deutschland, die nicht ausreichend stattgefunden hat (s. Anhang „KiMiss-Institut an UNO“ und http://www.kimiss.uni-tuebingen.de oder Leserbrief im
Deutschen Ärzteblatt, Jg. 119, Heft 42, 21.10.2022, von Dr. Walcher, Leiter der Psychosomatische Uni-Tagesklinik Freiburg/Br. [s. Anhang]).
Falsche Narrative dürfen nicht zur Grundlage von Rechtsprechung und Gesetzgebung werden.
EKE/PA als interaktioneller Prozess, bei dem die Rolle von Müttern oder Vätern (es ist kein geschlechtsspezifisches Thema!) für das Kind erodiert wird und seine Folgen ist wissenschaftlich gut
untersucht und die internationale Forschung ist in einem stetig sich weiterentwickelnden Stadium. 40 % der Studien zu Parental Alienation/Eltern-Kind-Entfremdung wurden seit 2016 veröffentlicht.
Mittlerweile existieren global mehr als 1300 wissenschaftlich relevante Studien, Fachbücher, Buchkapitel, Bookreviews und peer-reviewte Fachartikel in teils hoch angesehenen professionellen internationalen Fachzeitschriften (siehe: https://img1.wsimg.com/blobby/go/32bfb923-d01e-4723-bfbf69b5436b180b/downloads/Parental%20Alienation%20Research%20%26%20Resources%20List%20.p
df?ver=1699695639949)
Allein 166 professionelle Fachzeitschriften zu dem Thema wurden identifiziert. (siehe: https://ompase.translate.goog/journals.html?_x_tr_sl=en&_x_tr_tl=de&_x_tr_hl=de&_x_tr_pto=sc) Diese Arbeiten sind meist englischsprachig, aber auch in Französisch, Spanisch, Italienisch, Deutsch, Schwedisch, Norwegisch, Kroatisch, Tschechisch, Rumänisch, Niederländisch, Portugiesisch, Finnisch, Japanisch,
Koreanisch und Türkisch.
EKE/PA steht inzwischen auf solidem wissenschaftlichem Boden und sollte in den medizinisch-psychiatrischen, psychologischen, pädagogischen und juristischen Disziplinen bekannt und anerkannt sein.
Bei schwerem EKE/PA ist dringend eine professionelle therapeutische und juristische Intervention durch Spezialisten der Jugendwohlfahrtsbehörden und Familiengerichte mit Unterstützung von entsprechend weitergebildeten und erfahrenen psychiatrischen und psychologisch-pädagogischen Experten indiziert. Entsprechende Konzepte werden inzwischen international erprobt und evaluiert
(s. Review-Artikel W. von Boch-Galhau, International Journal of Psychiatry Research, 2021, Vol. 4, Iss. 5, Seite 5 oder auch die Webseite https://www.pasg.info/external-resources?category=Studies).
Ein eindrucksvolles Beispiel aus England für ein erforderliches Vorgehen befindet sich im Anhang.
Ich stimme Zimmermann et al. zu, „dass Rechtstatsachenforschung zum Familienrecht in Deutschland auf extrem schmalem Fuß steht, nicht zuletzt, mangels rechtlicher Grundlagen“. Hingegen
stimme ich keinesfalls der Aussage am Ende ihres Artikels in ZKJ 3/2023 zu, dass es „höchste Zeit
ist, das Konzept der Eltern-Kind-Entfremdung endgültig ad acta zu legen“. In Anbetracht der internationalen wissenschaftlichen Forschung zu Eltern-Kind-Entfremdung/Parental Alienation ist diese Forderung aus medizinisch-psychiatrischer Sicht wenig zielführend und kontraindiziert.
Ich erlaube mir, insbesondere auf folgende Arbeiten hinzuweisen:
D. Lorandos & W. Bernet (2020) , Parental Alienation, Science and Law, Springfield, IL., C. C. Thomas,
https://www.ccthomas.com/details.cfm?P_ISBN13=9780398093242
R. A. Warshak, 2021, Current Perspectives on Parental Alienation. In M. J. Ackerman, A. W. Kane & J.
Gould (Eds), Psychological experts in divorce actions (7th ed. pp. 4-134-4. 134.24), Wolters Kluwer.
J. J. Harman, R. A. Warshak, D. Lorandos & M. J. Florian, 2022, Developmental Psychology and the
Scientific Status of Parental Alienation, Online First Publication, June 2, 2022, APA PsychArticles: Developmental Psychology, http://dx.doi.org/10.1037/dev0001404
G. A. Rowlands, R. A. Warshak & J. J. Harman, 2023, Abused and rejected: The link between domestic
intimate partner violence and parental alienation, Partner Abuse, 14 (1), 37 – 58, DOI: 10.1891/PA2022-0001
J. J. Harman & D. Lorandos, Online First Publication, December 14, 2020. Allegations of Family Violence in Court: How Parental Alienation Affects Judicial Outcomes, Psychology, Public Policy and Law,
http://dx.doi.org/10.1037/law0000301
M. L. Matthewson, J. Bowring, J. Hickey, S. Ward, P. Diercke & L. Van Niekerk, 2023, A qualitative
exploration of reunification post alienation from the perspective of adult alienated children and targeted parents, Frontiers in Psychology
(https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fpsyg.2023.1189840/full)
J. J. Harman, C. Giancarlo, D. Lorandos & B. Ludmer, 2023, Gender and Child Custody Outcomes
Across 16 Years of Judicial Decisions Regarding Abuse and Parental Alienation, Children and Youth
Services Review, https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0190740923003833 (Eine
Auseinandersetzung mit Joan Meier (2019), die maßgeblich führend an einer internationalen Kampagne zu Miss-Charakterisierung von Parental Alienation-Theorie ist und großen Einfluss auf die Gesetzgebung in USA und Europa hat.)
W. Bernet, 2021, Recurrent Misinformation Regarding Parental Alienation Theory, The American
Journal of Family Therapy, 2021, https://doi.org./10.1080/01926187.2021.1972494
D. Lorandos (ed.), 2023 , Litigator’s Handbook of Forensic Medicine, Psychiatry, and Psychology (Dieses aktuelle amerikanische Werk mit 43 Autoren aus fünf Ländern ist hilfreich für Mental-Health-
Experten, Anwälte und Richter im Bereich forensischer Medizin, Psychiatrie und Psychologie https://litigatorshandbook.godaddysites.com
H. Sünderhauf & M. Widrig, EGMR anerkennt „Parental Alienation“, Sui generis, 2020, S. 491 – 501, https://doi.org/10.21257/sg.160
A. J. L. Baker & P. R. Fine, 2017, Surviving Parental Alienation: A Journey of Hope and Healing, Lanham, MD, USA
Das Buch wurde in mehrere Sprachen und 2023 auch unter dem Titel „Entfremdung“ ins Deutsche übersetzt, G. H. Hofmann-Verlag, Gemünden a. M., https://www.hofmann-buch.de/978-3-932737- 83-1.html
Gebhardt, G.: Sarah Cecilie, 2015, https://www.youtube.com/watch?v=3qgj3WXYHyo . Sie können alle Versionen des Films durch die Action Against Abduction (Webseite auf https://www.youtube.com/user/PACTonline) einsehen.
Ein anderer wichtiger Film über PA von Alexander Dierbach (in deutscher Sprache) wurde mit dem Titel “Weil Du mir gehörst” (Englisch: Because you are mine) auf dem Filmfestival in München (27. Juni – 6. Juli 2019; https://www.filmfest-muenchen.de/de/programm/filme/film/?id=6089) und auf dem Filmfestival in Ludwigshafen (5. – 7. September 2019 sowie im Fernsehsender 3SAT gezeigt. Er stellt die ganze Tragik von PA in tausenden ähnlicher Familienrechtsfälle in Deutschland und von Millionen weltweit (Harman et al. 2018) dar.
Ich hoffe, dass dieser offene Brief an Sie als Herausgeber der ZKJ zum Thema Eltern-Kind-Entfremdung/Parental Alienation und die gesundheitlichen Folgen bei professionellen Berufsgruppen und in
Politik und Gesellschaft im deutschsprachigen Raum zu einem stärkeren Bewusstsein und zu einer besseren Anerkennung dieses Phänomens führt.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. med. Wilfrid v. Boch-Galhau, i. R.
Facharzt für Psychiatrie, Neurologie, Psychosomatik & Psychotherapie
Mitglied bei der Internationalen Parental Alienation Study Group
www.pasg.info