„Was hält Menschen gesund?“
Diese Frage hat der Medizinsoziologe Aaron Antonovsky1gestellt – und damit einen Perspektivwechsel eingeläutet: Statt zu fragen, warum Menschen krank oder belastet sind, rückt die Salutogenese die Ressourcen, das Gelingen und die Widerstandskraft in den Fokus.
Gerade in der ambulanten Kinder- und Jugendhilfe, wo wir täglich mit Krisen, Brüchen und Belastungen konfrontiert sind, ist dieser Blickwechsel entscheidend. Die salutogenetische Sicht prägt heute unser Verständnis von Krankheit und Gesundheit. Nach der salutogentischen Auffassung bewegt sich der Mensch im Lebensverlauf auf einem Kontinuum dynamisch zwischen den beiden Polen Gesundheit und Krankheit, wobei er mal mehr zum einen Pol und mal mehr zum anderen Pol tendiert. Hierbei bestimmen die persönlichen Ressourcen einer Person, wie sie mit Belastungen umgehen kann und wie stark ihr Kohärenzerleben ist. Das Kohärenzerleben setzt sich zusammen daraus, wie sinnhaft, handhabbar und verstehbar ein Mensch seine Umwelt empfindet.
Merksatz für den Alltag:
„Gesundheit ist nicht die Abwesenheit von Problemen – sondern die Fähigkeit, mit ihnen sinnvoll umzugehen.“
Die Idee der Salutogenese klingt im ersten Moment vielleicht theoretisch oder wissenschaftlich, hat aber im Alltag der Kinder- und Jugendhilfe eine ganz praktische und spürbare Bedeutung. Denn im Kern geht es um eine simple, aber sehr wirksame Frage: Was hilft einem Menschen, trotz belastender Lebenslagen gesund, stabil und handlungsfähig zu bleiben?Diese Sichtweise geht, wie bereits beschrieben, auf den Medizinsoziologen Aaron Antonovsky zurück, der sich weniger dafür interessierte, wie Menschen krank werden – sondern vielmehr dafür, was sie gesund hält. Gerade in der ambulanten Kinder- und Jugendhilfe, wo viele Familien mit schwierigen Lebensumständen, Unsicherheiten und emotionalen Verletzungen zu tun haben, kann dieser Perspektivwechsel sehr entlastend wirken. Denn statt ständig auf die Defizite, die „Baustellen“ und das, was nicht funktioniert, zu schauen, richtet sich der Blick darauf, was trotz allem gelingt – und wie man genau das stärken kann.
Ein Beispiel: Ein 13-jähriger Junge lebt bei seiner alleinerziehenden Mutter, die psychisch stark belastet ist. In der Schule läuft es nicht gut, zu Hause gibt es häufig Spannungen. Ein klassischer Blick würde sich darauf konzentrieren, was alles schwierig ist: die Fehlzeiten, die Überforderung der Mutter, die fehlende Struktur. Die geschulten Fachkräfte sehen: Der Junge hat ein enges Verhältnis zu seinem Großvater, der regelmäßig mit ihm angeln geht. Er liebt das Zeichnen und schafft es, sich über Bilder auszudrücken, wenn Worte fehlen. Genau hier setzt die salutogenetische Haltung an: Wie können wir das, was stabilisierend wirkt, bewusst stärken?
Ein zentrales Element dabei ist das sogenannte Kohärenzgefühl. Das beschreibt, wie ein Mensch seine Umwelt erlebt – ob er das Gefühl hat, die Welt zu verstehen, mit ihr umgehen zu können und ob das, was passiert, für ihn überhaupt Sinn ergibt. Wenn Jugendliche oder Eltern sich in ihrer Lebenslage ohnmächtig oder verwirrt fühlen, fehlt oft genau dieses Gefühl von „Ich kann das schaffen“. Umso wichtiger ist es, in der Hilfeplanung und im Alltag kleine, machbare Schritte sichtbar zu machen, Orientierung zu geben und gemeinsam herauszufinden, was für die betroffene Person selbst Bedeutung hat. In der Praxis kann das heißen, mit einem Kind einen Wochenplan mit Symbolkarten zu entwickeln, damit der Tag strukturierter wird – oder einer Jugendlichen zuzutrauen, selbst den Termin beim Jugendamt zu vereinbaren, statt alles für sie zu übernehmen. Es kann auch bedeuten, mit einer Familie eine sogenannte Lebenslinie zu erstellen, um gemeinsam auf positive Erinnerungen und Ressourcen zu schauen – also auf das, was trotz aller Krisen immer da war: vielleicht eine liebevolle Oma, ein Haustier, ein Lehrer, der an sie geglaubt hat.
Salutogenese meint auch, die sogenannten Widerstandsressourcen bewusst zu aktivieren – also alles, was Menschen stärkt: soziale Kontakte, Selbstwirksamkeit, Bildung, emotionale Sicherheit. Manchmal reicht schon ein verlässlicher Treffpunkt, ein Ehrenamt oder ein Sportangebot, um bei einem Jugendlichen neue Energie freizusetzen. Am Ende ist Salutogenese kein zusätzliches „Instrument“ – es ist ein anderer Blick auf Menschen. Einer, der nicht davon ausgeht, dass erst alles stabil und perfekt sein muss, damit etwas wachsen kann. Sondern der anerkennt: Stabilität und Gesundheit können auch mitten im Chaos entstehen – wenn Menschen erleben, dass sie verstanden werden, etwas bewirken können und ihr Leben Sinn macht. Das zu fördern, ist eine der wertvollsten Aufgaben in der ambulanten Kinder- und Jugendhilfe.
Vergleichspunkte zwischen Salutogenese und systemischem Ansatz:
1. Ressourcenorientierung statt Defizitblick:
Ein ganz zentraler gemeinsamer Nenner ist der Fokus auf Ressourcen. Während pathologische Sichtweisen fragen „Was ist kaputt?“, fragen sowohl die Salutogenese („Was hält gesund?“) als auch systemische Ansätze („Was funktioniert bereits im System?“) nach den vorhandenen Stärken, Beziehungen, Fähigkeiten und Potenzialen – auch (oder gerade) in Krisensituationen.
Im Beispiel des 13-jährigen Jungen erkennt man nicht nur das Problem (Fehlzeiten, psychische Belastung der Mutter), sondern richtet ihren Blick auf stabilisierende Elemente wie das Angeln mit dem Großvater oder das kreative Ausdrucksvermögen des Jungen. Genau so würde auch ein systemisch arbeitendes Team Ressourcen im Familiensystem oder in der sozialen Umgebung identifizieren und aktivieren.
2. Kontextualität und der Blick aufs Ganze:
Beide Modelle gehen davon aus, dass menschliches Verhalten nicht isoliert, sondern eingebettet in Beziehungen, Systeme und Kontexte verstanden werden muss. Die Salutogenese spricht hier vom „Kontinuum zwischen Gesundheit und Krankheit“, das durch innere wie äußere Ressourcen beeinflusst wird. Die systemische Sichtweise schaut ebenfalls auf das Wechselspiel zwischen Individuum und Umwelt – beispielsweise im Familiensystem, in der Schule oder im Sozialraum. Was in einem Kontext problematisch wirkt, kann in einem anderen hilfreich oder verständlich sein.
3. Bedeutung subjektiver Wahrnehmung:
Das Kohärenzgefühl – also die individuelle Wahrnehmung von Sinn, Verstehbarkeit und Handhabbarkeit – hat eine ähnliche Funktion wie die „narrativen Konstruktionen“ im systemischen Denken. Auch im systemischen Arbeiten spielt die subjektive Bedeutung eine zentrale Rolle: Es geht nicht darum, was objektiv „richtig“ oder „falsch“ ist, sondern wie Menschen ihre Realität konstruieren und erleben. In der Praxis bedeutet das z. B., dass die Fachkraft gemeinsam mit der Familie eine neue Geschichte über Bewältigung und Gelingen entwickelt – statt bei der Defiziterzählung zu verweilen.
4. Selbstwirksamkeit und Beteiligung:
Sowohl salutogenetische als auch systemische Ansätze fördern gezielt die Selbstwirksamkeit. Die Kinder und/oder Jugendlichen sollen eigene Termine machen, an Plänen mitwirken oder selbst Entscheidungen treffen. Auch in der systemischen Praxis ist Partizipation kein „Extra“, sondern Grundhaltung. Hilfe wird nicht für jemanden „gemacht“, sondern gemeinsam mit ihm entwickelt – idealerweise auf Augenhöhe.
5. Stabilität durch Beziehung und Kommunikation:
Die Systemische Theorie geht davon aus, dass Veränderung vor allem durch Beziehung und Kommunikation entsteht – nicht durch Kontrolle oder reine Verhaltenskorrektur. Auch die Salutogenese betont, dass stabile, unterstützende Beziehungen zu den wichtigsten Schutzfaktoren zählen. Das Beispiel mit der Ankerperson (Großvater) könnte ebenso in einer systemischen Fallsupervision als Hebel für Veränderung thematisiert werden.
Die Salutogenese und der systemische Ansatz sprechen unterschiedliche Sprachen, meinen aber in vielen Punkten dasselbe. Beide Modelle sind keine Methoden im engen Sinn, sondern menschenfreundliche, ganzheitliche Haltungen. In der Praxis der Kinder- und Jugendhilfe können sie sich wunderbar ergänzen – und vor allem: Sie laden dazu ein, Menschen nicht auf ihre Probleme zu reduzieren, sondern ihnen Entwicklung zuzutrauen.
Ein möglicher verbindender Satz wäre:
Salutogenese fragt: „Was stärkt?“ – der systemische Ansatz fragt: „Was wirkt?“
Gemeinsam fragen sie: „Was macht Sinn?“
A.C.Clauberg, Kunsttherapeutin, HP Psychotherapie, Kunstpädagogin
¹ Aaron Antonovsky (1923–1994) war ein israelisch-amerikanischer Medizinsoziologe, der mit dem Konzept der Salutogenese einen grundlegenden Perspektivwechsel in der Gesundheitswissenschaft initiierte. Anstatt sich auf die Entstehung von Krankheit (Pathogenese) zu konzentrieren, stellte er die Frage: Was hält Menschen trotz Belastungen gesund? Seine Arbeiten prägten insbesondere die Gesundheitsförderung und psychosoziale Praxis.